Die wirkliche "Option für die Armen" – oder was ist "die Wirtschaft"?
Die Sozialinitiative der beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland ist in einigen Punkten überraschend (z.B. wegen ihres klaren Bekenntnisses zur Sozialen Marktwirtschaft), in vielen Punkten plätschernd (wegen ihrer Sowohl-Als-Auch-Ausführungen) und im zentralen Punkt denkbar unkonkret. "Die Wirtschaft" bleibt seltsam blutleer und unbestimmt. Fast so, als wäre sie etwas Fremdes, unverständliches. In diesem Punkt trifft sie sich mit dem jüngsten Apostolischen Schreiben des Papstes "Evangelii Gaudium", wenn dieses sicher auch einen seelsorglichen und keinen wirtschaftspolitischen Standpunkt vertritt. Eine Zuspitzung findet dies in dem päpstlichen Ausruf "Diese Wirtschaft tötet!". Welche Wirtschaft eigentlich? Die venezolanische, die US-amerikanische, die russische, die deutsche Wirtschaft, …?
Neben dieser sehr wesentlichen Unschärfe beziehen sich beide Schreiben auf die "Option für die Armen", und beide Schreiben klammern das Problem des Staatsversagens, das es ja gerade auch in Marktwirtschaften gibt aus. Dabei ist doch, auch wenn das oft anders zu lesen ist, die Geschichte der jüngsten Finanzmarktkrisen ist die Geschichte des Staatsversagens.
Daraus ergeben sich vor allem zwei zentrale Fragen für die weitere Diskussion:
- Was genau ist denn "die Wirtschaft"?
- Und: Was ist die "Option für die Armen"?
Was ist "die(se)Wirtschaft"?
"Wirtschaft" ist kein Moloch, ist keine seelenlose, ohne menschliches Zutun ablaufende Maschinerie, die ggf. an eine automatisierte Schlachtbank erinnert, bei der die Kälber dem Todesmechanismus nicht entrinnen können. "Wirtschaft" sind "Menschen". Das sind wir! Das ist jeder Einzelne. Dies gilt umso mehr je freier das Wirtschaftssystem ist, weil wir dann umso mehr für unser Handeln und Unterlassen verantwortlich sind. Vor diesem Hintergrund ist dann auch der Ausruf des Papstes zu verstehen, die "Ausgestoßenen" würden wie "Müll", wie "Abfall"[1] behandelt. Das ist eine zutiefst menschliche Dimension. Sie kommt in jedem System überall auf der Welt vor. Der Ausruf müsste viel präzisier lauten: "Jede Wirtschaft tötet!". "Jede" – denn Wirtschaft besteht aus fehlerhaft handelnden Menschen. Wer das Sendschreiben nutzt um "die Wirtschaft" zu geißeln, welche auch immer das dann ist, macht es sich zu einfach. Er geißelt ein Abstraktum und weist jede Kritik von sich.
Dabei ist "die Gier", die mit der Wirtschaft so oft verbunden wird, so alt wie die Menschheit selbst. Das Gleichnis vom Zöller Zachäus im Lukas-Evangelium erinnert sehr eindrücklich daran.
Erst die Wohlstandsgesellschaft aber potenziert die Möglichkeiten, diese Gier auch auszuleben. Die DDR mag diese Form der Gier nicht gekannt haben. Sie war zwangsweise Solidargemeinschaft im Elend. Aber wollen wir diese Form der Solidarität haben? Mit ihr die Unfreiheit und den Mangel?
Gier ist kein Phänomen "der Wirtschaft" oder "der Banker", sondern der Menschen generell. Wer ein Kleidungsstück kauft und mit dem Billigpreis Kinderarbeit in Kauf nimmt, ist der nicht auch gierig?
Umso wichtiger ist es, dass die von der Sozialinitiative angeführten "gemeinsam geteilten Werte"[2] nicht nur proklamiert werden, sondern, dass die Kirche und (wir) Christen das Sediment der Gesellschaft dazu liefern. Wer eine "Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft" will, muss auf der persönlichen Ebene beginnen. Hier liegt die eigentliche, die größte Herausforderung. Das Doppelgebot der Liebe ist die wohl radikalste Messlatte überhaupt. Es verändert menschliches Verhalten von der Wurzel her. "Radikal" eben. Es kann nur von jemandem gelebt werden, der zuerst durch Gottes Liebe verändert wurde. Jemandem, der die Versuchungen der Welt hinter sich gelassen hat, und der "zuerst nach Gottes Reich und seiner Gerechtigkeit" trachtet[3]. Damit wird klar: Da sind die Kirchen mitten drin und zuallererst gefordert! Wer "Wirtschaft" verändern will, muss Menschen verändern. Bei dem Apostolischen Schreiben merkt man dies sehr deutlich. Hier meint der Leser förmlich die Müllkippen zu riechen, auf denen Kinder in Lateinamerika leben. Die Sozialinitiative wirkt da deutlich steriler und verortet sich bevorzugt auf der Zuschauertribüne.
Die individuelle Ebene ist die seelsorgliche Ebene. Bei ihr muss kirchliches Denken und Handeln zuallererst ansetzen. Hier ist Kirche mit ihren Gläubigen mittendrin. Von hier geht die Veränderung aus.
Die Frage nach der Wirtschaftsform stellt die Systemfrage: Wie muss eine Wirtschaftsform aussehen, die dem Menschen gerecht wird und die eine wirkliche "Option für die Armen" bietet? Wo müssen wir uns auf der Skala zwischen Kapitalismus und Sozialismus/Kommunismus als den beiden großen Antipoden bewegen?
Können Sozialismus/Kommunismus die Antwort sein?
Dass der Kommunismus (und der Sozialismus als Zwischenetappe auf dem Weg dorthin) nicht die Antwort sein kann, ergibt sich zumindest aus zwei Punkten:
- Der Mensch als Gottes Ebenbild[4] kann nur als Einzelpersönlichkeit, als Individuum verstanden werden, nicht als Teil einer identitätslosen Masse. Letzteres widerspricht dem Schöpfungsgedanken. Was der Mensch tut, tut er freiwillig und nicht, weil die Masse um ihn herum ihm eine bestimmte Rolle und Aufgabe zugewiesen hat.
- Hinter dem Kommunismus selbst steckt das Konstrukt des "Philosophenstaates", wie ihn Karl Popper in "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde"[5] demaskiert hat.
Der Philosophenstaat Platons ist Traumgebilde und Paradoxon zu gleich: Traumgebilde, weil es den reinen Gutmenschen, der immer nur das Beste für die Gesellschaft will, nicht gibt – aber selbst wenn es ihn gäbe, wie würde diese Regierung "wohlmeinender Diktatoren" ausgewählt, woher wüssten diese Gutmenschen, was den Regierten am besten dient und wie allokieren sie die knappen Mittel? Und selbst wenn sie es wüssten, welche Anreize hätten sie, ihr eigenes Streben dem Wohl der Gesellschaft unterzuordnen? Das Paradoxon ist doch: Eine Vereinigung von Menschen, von denen jeder Einzelne unvollkommen und schwach ist, kann in ihrer Gesamtheit, ausgestattet mit letztlich diktatorischer Gewalt, durch Macht alleine nicht gut werden. Im Gegenteil. Regierungen bestehen auch nur aus Menschen, und seien es lauter (selbsternannte) Philosophen.
Die Geschichte des Sozialismus ist nicht zufällig die Geschichte von Massenmord, Massenarmut und diktatorischer Gewalt.[6] Die Seele des neuen Menschen muss auf dem Altar der Ideologie geopfert werden um der Ideologie willen, da diese die Allmacht der Philosophen auf Dauer sichert. Absolute Macht korrumpiert absolut.
Kann der Kapitalismus die Antwort sein?
Kann der Kapitalismus die Antwort sein? Der Kapitalismus ist ideologiefrei. Er ist nicht selbst eine Form der Religion, wie es Hayek im Gegensatz dazu dem Sozialismus m.E. zu Recht vorwirft[7]. Der Kapitalismus kommt ohne Herrscherclique aus, die sich dieser "Religion" als Legitimation ihrer Herrschaft bedient. Anders auch als der Philosophenstaat / der Sozialismus fügt er sich sehr gut in eine Demokratie ein.
Der Kapitalismus gründet auf Privateigentum und freien Märkten, auf denen die Güter und Dienstleistungen gehandelt werden. Freie Menschen treffen im freien Spiel der Kräfte aufeinander und verfügen frei über ihr Eigentum und ihre Arbeitskraft. Kein "Philosoph" (z.B. in Gestalt der Partei der "Arbeiterklasse") gibt ihnen Tun oder Handeln vor. Der Schöpfungsfunke kann sich frei entfalten – bis er von der Macht dessen, der über mehr Kapital und Einfluss verfügt, eingegrenzt oder sogar zunichte gemacht wird. Hier beginnt die Herausforderung des Kapitalismus: Er kann kein moralisches Handeln hervorbringen - genauso wenig wie der Sozialismus, obwohl dieser es für sich in Anspruch nimmt. Sein Grundfehler ist: Er hat zu Ende gedacht auch kein Interesse am freien Wettbewerb. Kapital und Renditemaximierung stehen im Mittelpunkt. Der Schwächere ist bei diesem freien Spiel der Kräfte ungeschützt. Und: Ein kapitalistisches System selbst ist ungeschützt.
Schumpeter verweist in seinem grundlegenden Werk[8] auf die dem Kapitalismus eigene "schöpferische Kraft der Zerstörung" hin, bei der das freie Spiel der Kräfte im Wettbewerb das Neue, das Bessere hervorbringt. Das allerdings nicht, ohne dass er seine "schützenden Hüllen" selbst zerstört: Durch Kapitalakkumulation zerstört er Freiheit und Wettbewerb. Ein Kritikpunkt, an dem auch Walter Eucken, einer der wichtigsten Begründer des Ordoliberalismus und damit einer der Väter der Sozialen Marktwirtschaft, ansetzt. U.a. in seinen "Grundlagen der Nationalökonomie"[9] und den posthum erschienenen "Grundzüge der Wirtschaftspolitik"[10] wendet er sich aus gutem Grund gegen die Politik des Laissez-Faire". Die Sozialinitiative erfasst dies genau richtig. Kennzeichnend für den Ordoliberalismus ist, dass die Freiheit des Einzelnen und die Marktwirtschaft konstitutiv sind, diese sich aber in einen Ordnungsrahmen einfügen, den der demokratische Rechtsstaat (nicht der diktatorische Philosophenstaat) zieht. Staatliche Aufgabe ist es somit, die Regeln/ die Ordnung zu setzen und zu überwachen innerhalb derer sich Marktwirtschaft entfaltet. Eine Machtkonzentration gibt es nicht, ebenso wenig wie eine vorherrschende Ideologie, deren einzige Funktion es ist die Macht zu begründen und Verstöße dagegen zu ahnden.
Zur Verhinderung von Machtkonzentration gehören Freiheit und Privateigentum konstitutiv dazu. Machtkontrolle durch Wettbewerb kann bei einer Konzentration des Kapitals nicht funktionieren – egal ob sich dieses Kapital in privater oder in staatlicher Hand befindet.
Freiheit als Kennzeichen einer marktwirtschaftlichen Ordnung ist die Grundvoraussetzung für schöpferisches Handeln, und im Schöpferischen drückt sich die Ebenbildlichkeit mit Gott aus. Ein Apparatschik im Sozialismus kennt diese schöpferische Freiheit nicht. Er ist Teil eines Räderwerks, das selbst sehr schnell unter die Räder geraten kann.
Freiheit und Wettbewerb bringen Innovation und Wohlstand hervor. Dem Wettbewerb kommt dabei sowohl die Rolle als "herrschaftsfreiem Kontrollmechanismus"[11] als auch als "Entdeckungsverfahren"[12] zu. Wohlstand, auf dessen Grundlage erst über die soziale Frage und Umverteilung nachgedacht werden kann.
Es ist wohl kein Zufall, dass die Begründer dessen, was wir heute als Soziale Marktwirtschaft kennen, überwiegend Christen waren[13]: Sie wussten um die Unvollkommenheit des Menschen und versuchten gleichzeitig ein Wirtschaftssystem zu schaffen, in dem die Freiheit, die zur Würde des Menschen dazu gehört, zur Entfaltung kommen kann. Der Ordoliberalismus hat die Antwort gefunden auf diese unverändert drängende Herausforderung, die uns die Sozialinitiative wie auch der Papst entgegenhalten. Er ist die (weltliche) "Option für die Armen".
[1] Papst Franziskus; „Evangelii Gaudium“; 2013; Ziffer 53, S.36. zurück
[2] „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“, 2014 (S.9). zurück
[3] Matthäus 6,33. zurück
[4] 1. Mose 1,27. zurück
[5] Popper, Karl; „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, 1945. zurück
[6] Vgl.: Courtois, Stéphane (Hrsg.); „Das Schwarzbuch des Kommunismus“, 1997. zurück
[7] Hayek von, F.A.; „The Fatal Conceit“, 1988, S.139. zurück
[8] Vgl. Schumpeter, Joseph; „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“, 1942. zurück
[9] Vgl. Eucken, Walter; „Grundlagen der Nationalökonomie“, 1939. zurück
[10] Vgl. Eucken, Walter; „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“, 1952 (1. Auflage). zurück
[11] Vgl. Röpke, Wilhelm; „Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart“, 1942. zurück
[12] Hayek von, F.A.; „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“, 1968. zurück
[13] Vgl. Plickert, Philip; „Liberale Ökonomen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“; in „ORIENTIERUNGEN zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik“, 09/2009, S.41ff. zurück
Kommentare
Das größte Gift für die Umwelt...
... ist die Armut!
Mit dem Umweltschutz sollte man deshalb direkt in den armen Familien beginnen.
Anstatt die Wälder zu zertifizieren, sollte man arme Familien zertifizieren.