Bis zur Inklusion sind noch viele Schritte nötig

Die Ökumenische Sozialinitiative der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland hat eine breite Diskussion angestoßen. Die zentralen Etappen des Diskussionsprozesses, vom Kongress "Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft" bis zu den Stellungnahmen, Gastbeiträgen und Kommentaren hier auf dieser Webseite, sind im Dokumentationsband "Im Dienst an einer gerechten Gesellschaft" zusammengefasst, den Sie hier als PDF herunterladen können

Barbara Brusius

Pfarrerin Barbara Brusius ist theologische Referentin des Dachverbandes der evangelischen Blinden- und Sehbehindertenseelsorge (DeBeSS).

Als theologische Referentin des Dachverbandes der evangelischen Blinden- und Sehbehindertenseelsorge (DeBeSS) möchte ich auf den ökumenischen Text "Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft" reagieren. Leitend für meinen Einwand und die dringende Bitte der Weiterführung und Ergänzung des Textes ist der Blick aus der Sicht der Zielgruppe der Menschen mit Behinderung.

Am 26. März 2014 war der fünfte Jahrestag der Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) in Deutschland. Seit der Ratifizierung taucht der Begriff der Inklusion verstärkt im deutschen Sprachgebrauch auf, nachdem er vorab schon im Bereich des Bildungswesens Einzug gehalten hatte. So hat dieser Begriff auch Eingang in diesen ökumenischen Text gefunden. Kritisch anmerken möchte ich, dass trotz der wiederholten Verwendung des Begriffs an keiner Stelle der Bezug zum Kontext der UN-BRK hergestellt wird. Menschen mit Behinderung werden im Text nicht explizit erwähnt, sondern höchstens mitgemeint und bleiben damit unsichtbar.

In These 2 wird umfassende soziale Inklusion und Partizipation aller Menschen als ethisches Leitbild gesetzt. In diesem Zusammenhang wird zur Überwindung der sozialen Exklusion der Bildung für alle eine besondere Rolle zugewiesen. Leider wird in diesem Zusammenhang nicht erwähnt, dass für Menschen mit Behinderung ohne ausreichende bezahlte Assistenzsysteme der Zugang versperrt bleiben wird. Eine gleichberechtigte Beteiligung von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben, Ämtern und Ehrenamt sowie Kultur und Freizeit bedarf der Bereitstellung von Assistenz, dies reicht von barrierefreien Medien bis zu Gebärdensprachdolmetschern, vom Transportservice bis zur ausgebildeten Taubblindenassistenz. Aus meiner Sicht wäre im Text an dieser Stelle ein Bezug zum geplanten Teilhabegesetz hilfreich gewesen. Es sollte dabei angesprochen werden, dass die Hilfen für Menschen mit Behinderung einkommens- und vermögensunabhängig sowie bedarfsdeckend zu gestalten sind, da gerechte Teilhabe auch eine Frage des finanziellen Hintergrunds ist, wie auf Seite 22 zu Recht erwähnt wird.

Wenn Menschen mit Behinderung mitgemeint sind, sollen sie auch erwähnt werden

Auch in These 7 und 8 werden wieder Inklusion und Partizipation als ethisches Leitbild bemüht. Wenn aus der Sicht der Menschen, die den Text erstellt haben, die Menschen mit Behinderung im Text mitgemeint sein mögen, so ist es aus meiner Sicht jetzt dringend nötig, sie auch einmal extra anzuführen. Die Potentiale und Möglichkeiten von Menschen mit Behinderung werden oftmals von Arbeitgebern und anderen gesellschaftlichen Akteuren übersehen. Dies zeigt sich insbesondere an der mehr als doppelt so hohen Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung, zudem sind sie verstärkt von Dauerarbeitslosigkeit betroffen. Zu Recht mahnt der Text an, dass der Hilfsbedürftige in seiner Personalität ernst genommen werden und der Einzelfall in den Blick kommen muss.

Zugleich wird der Mensch selbst auf seine Eigeninitiative gewiesen. Hier ist gerade bei Menschen mit Behinderung oftmals ein besonderes Maß an Empowerment, an Ermächtigung und Stärkung nötig. Nach vielen Jahren der Fürsorge und Versorgung ist eigenes Handeln erst wieder zu erlernen. Auch in diesem Zusammenhang sind eine einfache und selbstverständliche Assistenz sowie Angebote der barrierefreien Kommunikation, die nicht erst langwierig erstritten werden müssen, eine Grundvoraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe.

Insgesamt hätte ich mir einen kurzen Bezug zur Herleitung des ethischen Kriteriums der Inklusion im Eingangsteil gewünscht. Hier hätte anhand der Gottesebenbildlichkeit eine theologische Verortung sowie eine nähere Verständnisklärung des Inklusionsbegriffs erfolgen können. Und wenn die beiden Kirchen mit einem selbstkritischen Blick den eigenen Umgang mit den aufgestellten ethischen Leitkriterien von Inklusion und Partizipation kritisch reflektiert hätten, wäre dies sicherlich für die Akzeptanz des Wortes nicht schädlich gewesen.

Denn ob als Arbeitgeber, im Bereich der ehrenamtlichen Mitarbeit, in Bezug auf das Zusammenleben in den Gemeinden oder die Unterstützung in diakonischen Bereichen sind hier auch innerhalb der Kirchen noch viele Schritte nötig, bis Inklusion und gerechte Teilhabe für alle auch im innerkirchlichen Bereich umgesetzt sind. Die Wandlung hin von der Fürsorge zur Partizipation ist hier noch auf dem Weg und braucht immer wieder neue Anstöße. Und dies könnte aus meiner Sicht durchaus auch in einem solchen Wort eingestanden werden.

Kommentare

Als Betroffene kann ich aus meiner Sicht folgende Anmerkung zu dieser Thematik beisteuern:
Inklusion beginnt in der Familie und muss von dort aus weiter geführt werden können, ohne Hürden bei der Einschulung oder auch im Kindergarten und dem Arbeitsleben, das sollte das Ziel sein. Einrichtungen müssen so aufgebaut werden, dass sie nicht extrahieren sondern inkludieren. Heute werden Menschen klassifiziert und ihrer Einstufung entsprechend eingruppiert. Unabhängig von der Unmöglichkeit einer gerechten Bewertung für jeden individuell, ist das nicht richtig! E l t e r n müssen die Möglichkeit haben ihren Kindern Einrichtungen zur Verfügung stellen zu können, deren Mitglieder nicht vorgegebenen Normen entsprechen sondern die zukünftigen Generationen stellen. Damit meine ich eine neue Entwicklung hin zu Einrichtungen, die allen Menschen Möglichkeiten bieten sich ihren Begabungen entsprechend zu bilden und Förderangebote bereit stellen, die auf die differenzierten Bedürfnisse eingehen können. Gestützt durch entsprechende Pädagogen deren Qualifikation flexible Einsatzmöglichkeiten ermöglicht und von der Erwachsenenbildung bis zur einfachen Schulbildung hin reicht. Grundschulen könnten so angesiedelt sein, dass für jeden Ort die Möglichkeit besteht eine Schule in näherem Umfeld zu erreichen. Gymnasium, Realschule oder Hauptschule und Sonderschule sowie Montessori und Privatschulen trennen bereits heute die unterschiedlichsten Begabungen und klassifizieren von vorn herein, was sich zusammen viel besser sozial integrieren lässt. Individuelle Begabung ist doch kein Problem für gemeinsame Interessen sondern sollte vielmehr Innovation für eine Weiterentwicklung in diesem Bereich sein. Für Politik sollten die individuellen Ansprüche Ansporn dafür sein, zusammenzuführen, was heute voneinander getrennt aufwächst und dann erst im Erwachsenenalter miteinander konfrontiert wird. Ein soziales Gefüge entsteht durch Individualisten deren Gemeinsamkeiten erkannt und gefördert werden und nicht durch Begabungen, die voneinander getrennt propagiert und unterstützt werden. Das gesamte Schulsystem und Bildungswesen gehört reformiert und nicht nur sporadisch angepasst. Jeder einzelne Mensch hat ein Recht auf Bildung und das muss Politik ohne Diskriminierung einzelner Menschen realisieren immer im Bestreben nach einer sozialen Gemeinschaft, die nicht erst im Erwachsenenalter miteinander konfrontiert wird, sondern von klein auf zusammenwachsen kann. Schule ist nicht nur ein Ort des Lernens, sie ist auch eine Begegnungsstätte für Menschen, die sozial interagieren wollen und müssen. Es sollte weniger auf die bestehenden populistischen Merkmale geachtet werden, als viel mehr auf die Entwicklung neuer Fähigkeiten eingegangen werden, die sich speziell aus der Konfrontation mit andersartigem ergeben können. Es wäre wirklich schön, könnten möglichst viele Menschen lernen andere so anzunehmen wie sie sind, um diese Eigenschaft immer mehr in die Gesellschaft einzubringen.