Den Schreibern ist der Mut abhanden gekommen
Vorbemerkung:
Der Impulstext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz unterscheidet sich in seinem Zustandekommen und seiner Struktur von dem Gemeinsamen Wort "Für ein Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" von 1997. Es ist weniger umfangreich (weniger Themen) und argumentiert weniger differenziert. Auch hinsichtlich seiner Entstehung unterscheidet er sich. Das Gemeinsame Wort war das Ergebnis eines Konsultationsprozesses. Der vorliegende Impulstext ist das Ergebnis einer Arbeitsgruppe. Leider wurden katholische Verbände und Organisationen bei der Abfassung des Impulstextes nicht eingebunden. Es gibt seitens der beiden Kirchen keine klare Botschaft, wie das weitere Verfahren sein soll und was das Ziel der "Ökumenischen Sozialinitiative" ist. Katholische Verbände und Organisationen wurden aufgerufen, den Impulstext zu kommentieren. Für Juni 2014 ist ein Kongress in Berlin geplant. Dort soll "der Diskussionsprozess gebündelt werden".
Bewertung:
Der Impulstext greift Politikfelder auf, für die angesichts von Krisen (z.B. sog. Finanzkrise) Selbstverständlichkeiten und bisher unhinterfragte Gesetzmäßigkeiten nun problematisiert werden. Dabei bezieht der Impulstext klare ordnungspolitische Positionen. Der Impulstext hat seine Stärke in der klaren Botschaft. Komplexe Sachverhalte werden mit einer eingängigen Sprache dargestellt. Allerdings besteht bei dem Versuch, die Komplexität bestimmter Politikfelder zu reduzieren und sie auch für Nichtexperten zugänglich zu machen, die Gefahr, zu sehr zu vereinfachen. Der Text besticht an einigen Stellen allerdings auch durch unmissverständliche Positionierungen, etwa die Forderung, neben Boni auch selbstverständlich Mali bei wirtschaftlich Handelnden einzuführen. Derartige Forderungen sind eingängig, allerdings fragt sich auch – und dieser nötige Hinweis fehlt dem Impulstext –, wie derartige Forderungen umgesetzt werden sollen. Glaubenssätze wie der, dass zwischen Moral und Ökonomie ein Widerspruch bestehe und wirtschaftliche Akteure also durchaus "gezwungen" wären, etwa gegen soziale Mindeststandards zu verstoßen, werden entzaubert.
Der Impulstext eignet sich durch seine klare Sprache dazu, Debatten anzustoßen, an einigen Stellen provoziert er geradezu Reaktionen. Hinsichtlich Umfang und Argumentation eignet er sich für eine breite gesellschaftliche Debatte. Im Vergleich zum Gemeinsamen Wort von 1997, das durchweg von allen Parteien und Gewerkschaften sowie gesellschaftlichen Akteuren gelobt wurde, ist der nun vorliegende Impulstext weniger durch Kompromissformulierungen gekennzeichnet. Insofern ist zu hoffen, dass dadurch auch kontroverse Debatten ausgelöst werden.
Im Folgenden greifen wir auf einige Passagen des Impulstextes zurück und zeigen auf, wie wir diese aus Sicht des Kolpingwerkes Deutschland interpretieren.
Kapitel 1: "Wirtschaftliches Wachstum"
Die Feststellung, dass jede Form von Wirtschaft und Wirtschaften einen Bezug zum Gemeinwohl erkennen lassen muss, und dass gleichzeitig Gewinnmaximierung kein Selbstzweck sein darf, grenzt sich ab von jenen, insbesondere in der internationalen Finanzindustrie wuchernden Vorstellungen, dass Geld alles und in der Konsequenz auch gegen Moral verstoßen darf. Es ist zu begrüßen, dass der Impulstext deutlich klarstellt, dass Kapital eine dienende Funktion hat, und dass Arbeit das eigentliche Wesen menschlichen Seins ist.
Das Kolpingwerk Deutschland betont mit seinem EFG-Modell (Anlage) die Gleichwertigkeit der drei Arbeitsformen Familienarbeit, Erwerbsarbeit und Freiwilligenarbeit. Damit diese Sichtweise schrittweise zur Realität wird, bedarf es eines Umdenkens. Nach wie vor wird Erwerbsarbeit alleine als das Maß für gesellschaftliche Teilhabe und Wertigkeit betrachtet. Sowohl Gesellschaft als auch Wirtschaft leben von Voraussetzungen, die sie einerseits nicht selbst schaffen, gleichzeitig aber darauf angewiesen sind. Das sind im Wesentlichen die familiären und freiwilligen Leistungen. Sozialkapital wird nach wie vor eher als individuelle Angelegenheit betrachtet und nicht als wesentliche Voraussetzung für eine sozial befriedete Gesellschaft.
Wenn Arbeit (in all ihren Ausprägungen) grundsätzlich Vorrang vor dem Kapital zu haben hat, dann muss ferner wieder das Primat der Politik vor der Wirtschaft gelten. In der sog. Finanzkrise entstand der Eindruck, dass nicht die Politik, sondern die Finanzwelt die Regeln setzt. Insofern muss sehr kritisch das Gerede von den "funktionierenden Märkten" beurteilt werden. In diesem Sinn können die entsprechenden Botschaften von Papst Franziskus eine notwendige Debatte beflügeln. Die Kirchen sollten sich aufgerufen sehen das Primat der Arbeit vor dem Kapital und das der Politik vor der Wirtschaft offensiv und auf allen gesellschaftlichen Ebenen einzufordern.
Die Feststellung im Impulstext, dass die wirtschaftliche Entwicklung und der soziale Fortschritt nicht auseinander driften dürfen, ist in Erinnerung zu rufen. In vielen politischen Debatten wird der Eindruck geweckt, dass sich Gesellschaft sogenannten wirtschaftlichen "Sachzwängen" anzupassen hat. In der Konsequenz der Aussagen des Impulstextes der Kirchen verstehen wir darunter auch, dass Positionen, die meinen dass die Gesellschaft und sogar die Demokratie wirtschaftskompatibel zu sein hätten, eine klare Absage erteilt werden muss. Wer Wirtschaft und soziale Gegebenheiten nicht zusammendenkt und ihre jeweilige Bedingtheit und das Aufeinanderbezogensein problematisiert, der missachtet willentlich diese Zusammenhänge, oder will sogar der organisierten Verantwortungslosigkeit das Wort reden. Die Option für die Armen, die der Impulstext betont, ist nur glaubhaft umsetzbar, wenn soziale Gegebenheiten auf ihre wirtschaftlichen Zusammenhänge hin betrachtet werden. Eine von interessierter Seite das Wort redende funktionale Trennung von Wirtschaft und Soziales wiederspricht dem Grundgedanken der Sozialen Marktwirtschaft.
Kapitel 2: "Soziale Marktwirtschaft"
Die Tatsache, dass gerade in Deutschland die Schere zwischen Arm und Reich stärker als in vergleichbaren Staaten auseinanderläuft, lässt vermuten, dass Kernprinzipien der Sozialen Marktwirtschaft nicht (mehr) greifen. Es gehört zur Stärke des Impulstextes, dass er die Option für die Armen zum Ausgangspunkt der Analysen macht. Insofern wird zu Recht festgestellt, dass jede Form der Exklusion dem Bild der Sozialen Marktwirtschaft diametral entgegensteht. Als wertvoller Beitrag für eine weiterführende Debatte betrachten wir den Begriff des "Beziehungswohlstandes". Damit werden neue Perspektiven eröffnet für eine Debatte über die Zukunft unserer Gesellschaft gerade bei der Frage, ob die Generierung materiellen Wohlstandes alleine schon Ausdruck einer befriedeten Gesellschaft sein kann. Allerdings darf es nicht bloß bei der Benennung dieses Begriffes bleiben. Wir alle sollten darüber nachdenken und uns darüber verständigen, nach welchen Kriterien sich sowohl individuelles als auch gesellschaftliches und wirtschaftliches Handeln angesichts vielschichtiger Problemlagen ausrichten muss.
Daher sollten bei politischen Entscheidungen die Konsequenzen der Entscheidung für alle Gesellschaftsbereiche mitgedacht werden. Das Gemeinwohl ist der Maßstab. Allerdings drängt sich für das Kolpingwerk Deutschland der Eindruck auf, dass in vielen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handlungsfeldern eher der Gruppenegoismus die Handlungslogik ist. Auch hier gilt darüber nachzudenken, wie es nicht nur bei Appellen an Politik und Wirtschaft bleibt, sondern das Gemeinwohlprinzip auch tatsächlich konkret "eingeklagt" werden kann. Das Verantwortungsprinzip gilt aber auch für die persönliche Ebene. Jeder ist aufgerufen die Konsequenzen seines Tuns auch mit Blick auf den Anderen zu überprüfen. Das erst wäre eine christliche Grundhaltung.
Kapitel 3: "Ordnungspolitische und ethische Maßstäbe"
Es ist ermutigend, dass der Impulstext klarstellt, dass "Gier, Maßlosigkeit und Selbstherrlichkeit" die Ursachen für die sog. Finanzkrise sind. Mit dieser Feststellung wird darauf verwiesen, dass jede Begründung mit Sachzwängen am Thema vorbeigeht und eben alles auf Willensentscheidungen des Menschen beruht. Sachzwänge, die einen nicht anders handeln lassen, gibt es nicht. Als völlige Abkehr von den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft und Verleugnung des Personalitätsprinzips ist zu werten, wenn sog. Verantwortungsträger die Ergebnisse persönlichen Fehlverhaltens delegieren. Das Prinzip der Verantwortungsdelegation hat sich als eine Grundhaltung in bestimmten Gesellschaftskreisen festgesetzt. Wer den Nutzen hat, der hat auch den Schaden zu tragen. Erst wenn dieses Prinzip wieder Allgemeingut und Maßstab für das Handeln jedes Einzelnen wird, können Fehlentwicklungen wie die sog. Finanzkrise verhindert werden. Verursacher wirtschaftlicher Fehlentwicklungen müssen genannt werden.
Ferner verbieten sich Debatten, in denen der Missbrauch von Sozialleistungen skandalisiert, hingegen Fehlhandlungen der Eliten jedoch nicht problematisiert werden. Auch die "Ideologie der Deregulierung" – als Ausdruck eines verantwortungslosen, weil die Konsequenzen des eigenen Tuns ausblendenden Verhaltens – muss kritisch hinterfragt werden.
Nichts geschieht ohne den Willen weniger oder vieler Menschen. Keine wirtschaftliche, politische oder soziale Realität fällt vom Himmel oder ist etwa "gottgegeben". Das ist auch als Aufforderung an jene gerichtet, die glauben, "Sachzwängen" ausgeliefert zu sein als Begründung für politische Apathie. Ein Christ gestaltet die Welt, er kehrt sich nicht von ihr ab. Er nimmt Ungerechtigkeiten nicht hin. Der christliche Mensch ist auch deshalb ein politisch aktiver Mensch. Gleichgültigkeit ist das Gift der Herrschenden. Überzeugtes Tun ist der Humus für Christen. Sie handeln solidarisch und gerecht. Dazu sind wir als Christen aufgerufen.
Der vorliegende Impulstext darf nicht in den Schubladen verschwinden
Kritik am Impulstext:
Das Kolpingwerk Deutschland bedauert bei grundsätzlicher Zustimmung zum Impulstext der beiden Kirchen, dass innovative Ansätze, die systemübergreifende Antworten geben wie das Rentenmodell der katholischen Verbände, nicht erwähnt werden. Auch wenn das Papier der beiden Kirchen nicht den Charakter oder Anspruch einer politischen "Streitschrift" hat, so hätte es ihm nicht geschadet, wenn es Debatten in der katholischen Verbändelandschaft u.a. registriert hätte.
Im Impulstext ist an einigen Stellen erkennbar, dass er aus der (privilegierten) Sicht der Mitte der Gesellschaft heraus formuliert worden ist. Insgesamt wird der Status quo gerechtfertigt, wenngleich auch Fehlentwicklungen aufgezeigt werden. Die meisten der Analysen und Interpretationen der sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten sind richtig. Allerdings folgen daraus weniger konkrete Forderungen als vielmehr Appelle an das moralische Handeln der Akteure. Das aber ist zu wenig. Insofern könnte – bei aller Zustimmung zu den Analysen – der nachvollziehbare Vorwurf aufkommen, dass den Schreibern des Impulstextes an entscheidenden Stellen der Mut abhanden gekommen ist.
Ein Beispiel sei exemplarisch erwähnt: Es wird zu Recht darauf hingewiesen, dass Armut sich nicht nur in "finanziellen Problemen" (S. 44) ausdrückt und der Sozialstaat daher (nur) die materielle Seite der Armut lindert (ebd.). Richtig ist ferner, dass Inklusion ein Gradmesser für die Sozialstaatlichkeit darstellt, Ausgrenzung das wesentliche Thema ist, die nicht nur durch finanzielle Nachteile verursacht wird. Wenn aber der Eindruck erweckt wird, dass "Erwerbsarbeit (sind) wesentlicher Ausdruck gesellschaftlicher Inklusion" (S. 46) ist, dann belegt das die oben festgestellte "Mittelschichtsfixierung" dieses Impulstextes. Um jedoch tatsächlich die "Option für die Armen" zum Maßstab des (politischen) Handelns zu machen, bedarf es auch auf der theoretischen Ebene zumindest die Bereitschaft, Gegebenheiten grundsätzlich in Frage zu stellen. Wenn Fehlentwicklungen wie die auseinanderlaufende Schere zwischen Arm und Reich nicht nur als solche bezeichnet und damit auch behandelt werden sollen, dann muss mehr folgen als lediglich Appelle an die Moral der Verantwortlichen. Das gilt auch für das Thema der Langzeitarbeitslosigkeit, zu dessen Lösung der Impulstext wenig beiträgt.
Der vorliegende Impulstext darf nicht in den Schubladen verschwinden. Er sollte Grundlage für gesellschaftliche Debatten werden. Ob dieses Ziel erreicht wird, bleibt fraglich. Wenn der Eindruck entsteht, dass die Kirchen mit dem vorliegenden Impulstext ihre "Pflicht", aber nicht mehr getan haben, dann wäre das ein falsches Signal. Unabdingbar ist es daher aus unserer Sicht, dass die beiden Kirchen mit allen Mitteln einen Dialogprozess anschieben. Wenn es allerdings dabei bleiben sollte, dass katholische Verbände und Organisationen lediglich den Impulstext kommentieren, ohne dass diese Kommentare wiederum eine Debatte auslösen, dann ist zu befürchten, dass es weder die politische Debatte bestimmt noch die politischen Entscheidungsträger erreicht und vor allem jene beeindruckt, die für Fehlentwicklungen eine Mitschuld tragen. Moral alleine ist nicht einklagbar!
Köln, 13.05.2014