Ende der Beobachtung! Für Bildung handeln
Mit der Publikation „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ melden sich die Evangelische und die Katholische Kirche in Deutschland mit dem Ziel zu Wort „eine breite gesellschaftliche Debatte für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung“ anzustoßen (EKD, 2014, S.5). Das Vorwort macht neugierig auf die „Antworten auf einige zentrale gesellschaftliche Herausforderungen“, die die Autorinnen und Autoren avisieren. Im Verlauf der Lektüre wird allerdings deutlich, dass die Diskussion der Themenfelder eher im Konjunktiven verbleibt. Konkrete Vorschläge zur Lösung oder auch nur Veränderung finden sich in diesem Papier keine.
Dieser Umstand wäre nicht der Erwähnung wert, würde das Papier aus einem Institut, Think Tank oder einer anderen auf Gesellschaftsdiagnostik spezialisierten Organisation stammen. Bei den beiden großen Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden handelt es sich jedoch um Akteure, die durchaus die Möglichkeit haben, gesellschaftliche Veränderungsprozesse voranzutreiben. Ein bedeutender Einfluss ergibt sich bereits aus dem Umstand, zu den größten Arbeitgebern in Deutschland zu gehören. Zu den angestellten und verbeamteten Hauptamtlichen addiert sich zudem eine große Zahl ehrenamtlich tätiger Menschen auf allen Ebenen und in den unterschiedlichsten Funktionen. Zur Vertiefung sei auf die Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD „zu ehrenamtlichen Tätigkeiten in Kirchengemeinden“ verwiesen (SI EKD, 2013).
Warum ist das interessant? Durch die bereits in der Presse breit kritisierte recht allgemein gehaltene Diskussion der zehn Herausforderungen bleibt unklar, wer genau mit welcher Rolle in der gemeinsamen Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft stehen soll. Erst im abschließenden Kapitel wird – immer noch vage genug – expliziert, dass „wir als Gesellschaft“ damit gemeint sind und auch die Kirchen „ihr eigenes Handeln in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht bedenken“ sollen (EKD, 2014, S. 59). Diese äußerst zurückhaltende Formulierung wirft die Frage auf, ob die Kirchen sich eher als neutrale Beobachter von Gesellschaft sehen möchten, denn als kraftvolle und einflussreiche Marktteilnehmer, die aufgrund ihres selbst gestellten Auftrages durchaus Forderungen nach dringend notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen formulieren könnten.
Die Forderung nach Lebenslangem Lernen wird zur Zumutung für Geringqualifizierte
Dabei gäbe es Wichtiges zu fordern: Auch und gerade in dem für eine Teilhabe an Gesellschaft so wichtigen Themenfeld der Bildung, auf das sich die folgenden Ausführungen beschränken. Das Papier konstatiert zwar sehr richtig „Bildungspolitik ist so verstanden ein wichtiger Teil einer vorsorgenden Sozialpolitik“ (EKD, 2014, S. 50), bleibt dann aber mit den weiteren Ausführungen an der Oberfläche. Die Forderung nach mehr Geld „für Investitionen in Bildung“ und die Anregung „die bisherige Verwendung finanzieller Mittel im Bildungsbereich“ zu überdenken (EKD, 2014, S. 50), werden sehr zurückhaltend vorgetragen. Sie sind weiterhin eingerahmt von Argumenten, die Bildung vor allem unter dem Gesichtspunkt der Employability (Beschäftigungsfähigkeit) und der volkswirtschaftlichen Effizienz diskutieren.
Wir haben in Deutschland nicht nur ein kleines Bildungsproblem, das mit ein wenig mehr Geld hier oder da zu lösen wäre. Die Probleme sind massiver und für eines der reichsten Länder der Erde kein gutes Zeugnis. 7,5 Millionen Erwachsene sind in Deutschland nach neuesten Erhebungen aus der leo. – Level One Studie von funktionalem Analphabetismus betroffen, was 14,5 % der Deutsch sprechenden erwerbsfähigen Bevölkerung entspricht (Grotlüschen & Riekmann, 2011, S. 24). Gestützt wird dieser Befund durch die Ergebnisse der PIAAC-Studie der OECD, nach der 17,5 % der Erwachsenen in Deutschland über äußert eingeschränkte Lesefähigkeiten verfügen (OECD, 2013, S. 257). Deutschland leistet sich ein Schulsystem, das zu ungefähr einem Fünftel Menschen entlässt, die „aufgrund ihrer begrenzten schriftsprachlichen Kompetenzen nicht in der Lage [sind], in angemessener Form am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben“ (Grotlüschen und Rieckmann, 2011, S. 28).
Vor dem Hintergrund fehlender Grundbildung wird die von den Autoren der Sozialinitiative formulierte Forderung nach Lebenslangem Lernen zur Zumutung für gering Qualifizierte – und zu einem weiteren Anspruch, dem sie nicht genügen können (ausführlich: Krenn, 2010). Forneck formuliert es auf den Punkt, indem er ausführt, dass das Konzept des Lebenslangen Lernens eine Selbststeuerung auf Seiten der Lerner voraussetzt, die aber eben nicht voraussetzungslos ist, sondern bereits eine Reihe von Kompetenzen unterstellt. Sind diese nicht vorhanden, hat dies „Konsequenzen für die stratifikatorischen Effekte von Lebenslangem Lernen.“ (Forneck, 2001, S. 6).
In der bildungswissenschaftlichen Diskussion hat hierzu der Begriff des „Matthäus-Prinzips“ eine Art trauriger Berühmtheit erlangt, der im Kern besagt, dass der- oder diejenige am leichtesten lernt und am meisten von Bildungsangeboten profitiert, der schon viel gelernt hat (ausführlich: Bolder, 2006, S. 431-444). Demgegenüber fehlen Millionen von Menschen in Deutschland derzeit die Kompetenzen, lebenslang selbstgesteuert zu lernen und bis zu einer grundlegenden Veränderung des Schulsystems ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass sich an diesen Zahlen wenigstens für kommende Generationen etwas ändert.
Überzeugender wäre es, die Beobachterrolle aufzugeben und das Richtige auch zu tun
Ja, es geht (auch) um „Durchlässigkeit“ des Bildungssystems und die „Attraktivität“ von Lernen (EKD, 2014, S.52); vor allem aber geht es um die Sicherstellung einer Grundbildung für alle. Grundbildung umfasst dabei „Kompetenzen in den Grunddimensionen kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe“ (BMBF, 2012, S. 1) zu denen neben Lesekompetenz unter anderem Rechenkompetenz und Grundfertigkeiten im IT-Bereich zählen. Zwar hat die
Evangelische Kirche in Deutschland die „Vereinbarung über eine gemeinsame nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener in Deutschland 2012-2016“ unterzeichnet; allerdings wird der Beitrag der Kirche auch in diesem Papier denkbar zurückhaltend formuliert (BMBF, 2012, S. 7). Im Text der Sozialinitiative wird darauf überhaupt kein Bezug mehr genommen.
Auf die fraglos notwendige Entwicklung des allgemein bildenden Schulsystems können die beiden großen Kirchen nur begrenzt Einfluss ausüben, indem sie nachdrücklich Veränderungen bei der Politik anmahnen. In ihrem eigenen Einflussbereich könnten sie jedoch sie aus eigener Kraft und eigener Macht weit mehr als nur fordern: sie könnten beispielgebend handeln. Die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände könnten Arbeitgeber sein, die lebenslanges Lernen, insbesondere alle Formen des arbeitsbezogenen Lernens, ermöglichen und fördern. Sie könnten und sollten gegen den Trend in die Bildung vor allem ihrer gering qualifizierten Beschäftigten investieren. Nicht (nur) aus betriebswirtschaftlichen oder volkswirtschaftlichen Erwägungen, sondern als Dienst am Nächsten und als eigener Beitrag zu einer gerechteren Gesellschaft. Konzepte für die Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener wurden inzwischen entwickelt und erprobt, benötigen aber in der Umsetzung weitere Unterstützung der gesellschaftlichen Akteure.
Warum also diese Zurückhaltung und der Rückzug in die Beobachterrolle? Es ist richtig, wenn die Kirchen sich für Gerechtigkeit engagieren und es ist richtig, wenn sie dies in Form von Apellen für eine gerechte Teilhabe an Bildung tun. Viel überzeugender und wirkungsvoller wäre es jedoch, die Beobachterrolle aufzugeben und entsprechend der eigenen, objektiv vorhandenen Stärke als gesellschaftliche Akteure und als Arbeitgeber von vielen tausend Menschen das Richtige auch zu tun. Der von den Autoren zur Argumentation bemühte Samariter hat schließlich auch nicht beobachtet und er hat nicht geprüft: er ist losgegangen und hat das Problem gelöst, das sich ihm an diesem Tag auf seiner Reise in den Weg gestellt hat.
Literatur:
BMBF – Bundesministerium für Bildung und Forschung (2012). Vereinbarung über eine gemeinsame nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener in Deutschland 2012-2016. Abgerufen am 17. April 2014.
Bolder, Axel (2006). Weiterbildung in der Wissensgesellschaft. Die Vollendung des Matthäus-Prinzips in Bittlingmayr, U.H. & Bauer, U. (Hrsg.) (2006). Die „Wissensgesellschaft“ - Mythos, Ideologie oder Realität? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
EKD – Evangelische Kirche in Deutschland (2014). Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft. Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung. Hannover: Evangelische Kirche in Deutschland.
Forneck, H.J. (2001). Die große Aspiration. Lebenslanges, selbstgesteuertes Lernen. Bonn: DIE - Deutsches Institut für Erwachsenenbildung. Abgerufen am 17. April 2014.
Grotlüschen, A. & Riekmann, W. (2011). Konservative Entscheidungen – Größenordnung des funktionalen Analphabetismus in Deutschland. Bonn: Deutsches Institut für Erwachsenenbildung. Abgerufen am 17. April 2014.
Krenn, M. (2010). Gering qualifiziert in der „Wissensgesellschaft“ – Lebenslanges Lernen als Chance oder Zumutung? Wien: Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt. Abgerufen am 18. Februar 2014.
OECD (2013). OECD Skills Outlook 2013. First Results from the Survey of Adult Skills. Abgerufen am 17. April 2014
SI EKD – Sozialwissenschaftliches Institut der EKD (2013). Ehrenamtliches Engagement in Kirchengemeinden. Abgerufen am 17. April 2014.
Kommentare
Überfluss und Bildung
Ist es möglich, dass es Menschen gibt, die am Leid anderer Menschen nicht interessiert sind? So viele soziale, gesundheitliche, gesellschaftliche, politische u.v.m. Leiden geben dem Weltmarkt immer wieder Chancen, sich nachhaltig zu entwickeln, indem man ihnen entgegenwirkt. Man lässt sich jedoch zu Gunsten des Marktes auf diese Leiden ein, um kein wirtschaftliches Risiko einzugehen. Wäre es ein politisches Eingreifen, wenn der Weltmarkt durch ethische Anforderungen reguliert wird oder muss eine Regulierung durch menschliches Handeln begründet werden? Welche Position nimmt Politik heute auf diesem Weltmarkt ein und wie gestaltet sie ihn mit, im Namen des Volkes, das hinter ihr steht? Es ist schwer nach moralischen Grundsätzen, die in jedem Menschen mittlerweile verankert sein sollten, zu handeln und doch ist es möglich. Nur wenn der Wert des Geldes vom Menschen an eine ihm zustehende Position gerückt wird, dann nimmt der wirtschaftliche Aufschwung eine Wende und schießt nicht am ethischen Ziel vorbei. Ziele müssen für alle Menschen gleichermaßen erreichbar sein. Es kann kein moralisch vertretbares Ziel sein, möglichst groß und möglichst reich zu sein, denn dann wären all die benachteiligt, die heute in einfachen Verhältnissen geboren werden. Moralische Ziele dürfen den wirtschaftlichen Zielen nicht im Wege stehen, sonst geschieht was wir heute auf den Märkten beobachten können, der Mensch verliert immer mehr an Bedeutung. Eigentlich sollten moralische Ansprüche a n die Wirtschaft angelegt werden, um a l l e n Menschen ein wirtschaftlich unabhängiges Leben zu sichern, das sich frei von persönlichen Umständen entfalten kann. Nur wenn Menschen ihr eigenes Wesen mit der göttlichen Norm in Einklang zu bringen versuchen, dann wird es einen Fortschritt geben, der wirtschaftlich begleitet den gewünschten Wohlstand erzielen kann, dessen der Mensch dann auch würdig ist.
Heute gibt es ein extremes Übermaß, das extremer Armut gegenübersteht und keine der beiden Lebensarten ist in der Lage seine Lebenseinstellung zu ändern. Die eine hat ein Problem die Realität in das eigene Leben mit einzubeziehen, wo die andere das eigene Leben fern ab dieser Realität führen muss. In Wirklichkeit sind beide Lebensformen in einem Geiste vereint und müssen endlich lernen sich offen gegenüberzutreten, um voneinander zu lernen. Bildung beginnt nicht auf der Schulbank, sie ist in jedem Menschen als Potential verankert, das er mit Hilfe seines Verstandes in die Realität umsetzen kann. Schulbildung ist eine Form, den Verstand zu aktivieren, um ihn dann im Leben so einsetzen zu können, das er einen Fortschritt der eigenen Lebensart nach sich ziehen kann. Heute w e r d e n Menschen gebildet und bilden sich nicht selbst, das ist ein grundliegendes Problem, denn immer setzt sich damit ein Mensch über den Bildungsstand eines anderen Menschen und das ist falsch. Kein Mensch kann wissen wie weit Gott in das geistige Potential des Menschen eingreifen kann und sollte aus diesem Grund nicht einen Bildungsstand als Maßstab werten sondern einfach als eine gemeinsame Basis ansehen. Es gibt so viele gebildete Menschen, deren Bildung im Massenwahn untergeht, der alles mit seinen Ansichten überrollt und dem ethischen Grundsatz der Gleichberechtigung damit grundlegend widerspricht.
Ureinwohner sind die am natürlichsten gebildeten Menschen, denn sie lernen von der Natur, was sie zum Überleben brauchen. Meist werden sie von der „menschlichen“ Zivilisation überrollt oder gar durch sie dezimiert, aus reinem Unverstand. Gott ist der Vater des Gedanken und in ihm setzt sich fort was über die Zeit im Heiligen Geist verankert wurde. Es ist so schwer Worte zu finden, die ausdrücken können, was das heutige Weltbild widergibt. Dann auch noch eine Verbindung zu den physischen Realitäten der gesamten Menschheit herzustellen scheint fast unmöglich. Menschen zerpflücken das Leben in ihre eigenen Bereiche und schaffen es dann nicht mehr das so zerpflückte Gesamtbild als überdimensionales Puzzle wieder detailgetreu zusammen zu setzen, sodass es einen Sinn ergibt. Der Sinn liegt im Erkennen der Wahrheit, denn wahrhaftig hat der Mensch sein Ziel Mensch zu sein noch lange nicht erreicht. Zusammengefasst in einem Haufen Durcheinander versucht er sich selbst als Menschheit zu definieren statt sich und sein Leben als Teil einer Einheit so zu führen, dass er seine Position ausbauen kann. Mensch sein bedeutet sich selbst als bewussten Teil eines Ganzen wahrzunehmen der in all seiner Unvollkommenheit durch den Verstand und die Vernunft in eine politisch und gesellschaftlich tragbare Situation geführt werden kann. Egal welchen Entwicklungsstand der Mensch in der Gesellschaft erreicht, Bildung ist der Konsens zum ihm eigenen Potential. Zeit kann so genützt werden, dass einer ethischen Entwicklung Vorschub geleistet wird. Heute ist Zeit ein Faktor zur Messung der Leistungsbereitschaft und setzt Fähigkeiten in maßstabsgetreues Potential um, statt dem Potential durch Bildung den Raum zu geben, den es zur Entfaltung bräuchte. Bildung sollte neue Maßstäbe setzen und sich nicht an alten festhalten. Eine soziale Gemeinschaft ist doch die Übereinkunft unterschiedlichster Lebensarten in eine von allen Mitgliedern respektierte Lebensform, deren Basis aus einem gemeinsamen Bildungsstand erwächst und durch die Errungenschaft gemeinsamer Werte bestehen kann.