Mehr Mut und klare Forderungen an Regierung, Wirtschaft und Bürger!

Die Ökumenische Sozialinitiative der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland hat eine breite Diskussion angestoßen. Die zentralen Etappen des Diskussionsprozesses, vom Kongress "Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft" bis zu den Stellungnahmen, Gastbeiträgen und Kommentaren hier auf dieser Webseite, sind im Dokumentationsband "Im Dienst an einer gerechten Gesellschaft" zusammengefasst, den Sie hier als PDF herunterladen können

Offener Treffpunkt "Wirtschafts-Ethik" der Katholischen Betriebsseelsorge Böblingen

Der Offene Treffpunkt "Wirtschafts-Ethik" der katholischen Betriebsseelsorge Böblingen trifft sich seit fast 12 Jahren jeden Monat und debattiert in ökumenischer Verbundenheit und großer geistiger Aufgeschlossenheit Themen aus Wirtschaft, Gesellschaftspolitik und kirchlicher Soziallehre.

1. Zum Inhalt insgesamt

Die Aussagen des Dokuments zu Ziel und Aufgabe der Wirtschaft teilen wir voll und ganz:

  • Das Ziel wirtschaftlicher Aktivitäten ist es, „die menschliche Entwicklung insgesamt zu befördern, Armut zu beseitigen, reale Freiheiten der Menschen zu vergrößern und so das Gemeinwohl weiterzuentwickeln“ (Seite 16).
  • “Die Aufgabe der Wirtschaft sollte es sein, in bestmöglicher Weise die materiellen Grundlagen für ein gutes, selbstbestimmtes Leben aller zur Verfügung zu stellen.” (Seite 57).
  • Vor allem die Passage auf Seite 16 schätzen wir hoch: “Ob der notwendige Neubau unseres Wirtschaftssystems gelingt, wird sich nicht zuletzt daran entscheiden, ob dem Geld der Stellenwert zukommt, der ihm gebührt: eine strikt dienende Funktion. Kapital dient der Realwirtschaft und damit den Lebensmöglichkeiten der Menschen - noch präziser: aller Menschen. Wo dieser dienende Charakter verloren geht, geht das Vertrauen der Menschen in die Wirtschaft verloren.”

Allerdings mutet das Dokument über weite Strecken an wie die Arbeit eines renommierten regierungsnahen marktorientierten wirtschafts- oder sozialwissenschaftlichen Instituts: Trefflich formuliert, nachdenklich... und reichlich unverbindlich.

Von den Kirchen, in der Nachfolge Jesu Christi, erwarten wir mehr. Jesus wandte sich direkt an die Menschen und half, wo Not war. Drei Gruppen waren ihm besonders wichtig: Kinder, Kranke und Arme. Deshalb wünschen wir uns aus dem Geist des Evangeliums heraus eindeutige Aussagen zu diesen Gruppen der Gesellschaft und begründen dies so:

“In Deutschland leben über 2,5 Millionen Kinder in Einkommensarmut. Dies entspricht 19,4 Prozent aller Personen unter 18 Jahren. Das Ausmaß der Kinderarmut ist seit vielen Jahren gravierend hoch.” (Quelle: Deutscher Kinderschutzbund; vgl. auch die Süddeutsche Zeitung (SZ), 15. Jan. 2014, Seite 5: Charlotte Theile: “Es reicht”).

Dieser jahrelange Skandal in unserem reichen Land kommt in der Initiative nicht vor, so wenig wie im Koalitionsvertrag (vgl. SZ vom 25. April 2014, Seite 5: Thomas Öchsner: “Die Kluft wird tiefer”)! Kinder haben offenbar keine wirksame Lobby. Kinder leben in Familien. Arme Kinder leben in armen Familien. - Die Familienpolitik muss dringend ein eigenständiges Thema im endgültigen Dokument der Sozialinitiative werden.

Auch die Situation Kranker ist zu würdigen. Kranke mit offenen Wunden werden nach Hause geschickt. Rentabilität ist wichtiger geworden als Gesundheit. Während es der Pharmaindustrie hervorragend geht, leiden Mitarbeiter in Krankenhäusern und Sozialstationen unter Arbeitsverdichtung, Zeitdruck und schlechter Bezahlung.

Die Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung ist beschränkt auf untere und mittlere Einkommensschichten. Reiche Bürger/-innen sind außen vor; warum? Wir erwarten, dass der kirchliche Grundsatz nachdrücklich vertreten wird, dass "starke Schultern starke Lasten tragen"!

Die Forderung nach wirtschaftlicher Sicherheit muss mit ins Dokument

Arme Mitbürger/-innen bzw. die Armut werden in verschiedenen Thesen erwähnt, aber genau so wenig wie Kinder, Familien oder Kranke direkt angesprochen. Das "Arbeitslosengeld 2" ("Hartz IV") ist kein Thema. Kann man bei seinen Empfängern wirklich noch vom "guten, selbstbestimmten Leben" sprechen?

Zudem: Wirtschaftlich erfolgreich wurde die "Agenda-Politik" aufgrund der den Arbeitnehmern/-innen und den Arbeits-Suchenden auferlegten, ja aufgezwungenen Opfern. Die Politik fand bislang kein einziges Wort der positiven Zuwendung gegenüber diesen gesellschaftlichen Opfern. Wenigstens unsere Kirchen sollten öffentlich für die Betroffenen Anerkennung, Würdigung und Dankbarkeit geben und politisch einfordern und sich gegen jedwede Diffamierung und Ausgrenzung wenden.

Zwei Gesichtspunkte, die für ein "gutes, selbstbestimmtes Leben" überaus wichtig sind, kommen in der Sozialinitiative nicht vor, die zu ergänzen sind:

1. Wie können Menschen zu wirtschaftlicher Sicherheit kommen? Der Wunsch nach Sicherheit ist bei den Bürgern unterschiedlich ausgeprägt, zumal in den verschiedenen Lebensphasen. So sind z. B. die Seelsorger der deutschen Kirchen vom Diakon (und seiner Familie) bis zum Landesbischof/Kardinal bis ans Lebensende wirtschaftlich abgesichert. Unsere Kirchen wissen also zu schätzen, wie wichtig berufliche und wirtschaftliche Sicherheit nicht nur für Familien und Alter, sondern auch für gute Arbeit selbst ist. Je härter hingegen der Wettbewerb, umso mehr Druck auf die Arbeitnehmer: Das führt leicht zu prekären Arbeitsverhältnissen bis hin zu Entlassungen. Wirtschaftliche Sicherheit kann vermittelt werden durch sichere Arbeitsverhältnisse und Renten, Erwerb von Eigentum, bedingungsloses Grundeinkommen. Sichere Lebens- und gute Arbeitsverhältnisse sind die allerwichtigste Grundlage dafür, dass Paare den Mut zu Kindern finden und sich den Immobilienkauf zutrauen. Der Wunsch nach Sicherheit wird häufig als unangemessen und unanständig abgetan - vor allem gerade von jenen Leuten in Politik und Wissenschaft, die selbst in sehr guten und gesicherten Verhältnissen leben.

Die Forderung nach wirtschaftlicher Sicherheit muss im Dokument aufgenommen werden.

2. Wie viel ist genug für ein "gutes selbstbestimmtes Leben" (vgl. das Buch von Robert & Edward Skidelsky, München 2013)? Diese Frage betrifft die Tugend des Maß-Haltens (vgl. Seite 58) - Ein kurzer Hinweis am Beispiel von Einkommen und Eigentum ist nötig: Maßloses Einkommen und Eigentum Einzelner verhindert faktisch das "gute, selbstbestimmte Leben" Anderer! Das "Maß Weniger" bestimmt dann das "Maß Vieler". So driften Einkommens- und Vermögensverhältnisse auseinander.

(Soziale) Marktwirtschaft: Dieses Stichwort zieht sich durch den gesamten Text; es findet 22-mal Erwähnung, davon 14-mal als ‘Soziale Marktwirtschaft‘. Leider sind die Aussagen wenig konkret, es fehlt an Beispielen. Wir meinen, in den 1950/60iger Jahren war man da weiter. Nell-Breuning prägte damals den Ausdruck “Schönwetterwirtschaft” für eine Marktwirtschaft, die in der Lage war, die ihr obliegende Aufgabe zu erfüllen (“Wirtschaft und Gesellschaft heute III”, Freiburg 1960, Seite 84).

Wenn beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt Stundenlöhne unter 7 € ausgehandelt werden und Praktikanten/-innen unentgeltlich beschäftigt werden, wenn auf dem Wohnungsmarkt die Mieten für viele nicht mehr bezahlbar sind, dann ist für die Betroffenen ein gutes, selbstbestimmtes Leben nicht mehr möglich. Diese Märkte liegen in einer ‘Schlechtwetterzone’ und erfüllen nicht mehr die Aufgabe, einen fairen Preis zu erzielen. Es bedarf dringend staatlicher Intervention. Dann wird z. B. der gesetzliche Mindestlohn auf angemessener Höhe und ohne Ausnahme dringender nötig denn je. Wir wünschen von unseren Kirchen und ihren Bischöfen, dass die Stärkung der "Sozialen Marktwirtschaft" dazu führt, dass der Lohn zum guten, selbstbestimmten Leben reicht und Wohnungen bezahlbar bleiben.

Aktienspekulation begrenzen und den Sinn und Zweck von Eigentum beschreiben

Hochfrequenzhandel und verschiedene Freihandelsabkommens-Verhandlungen (insbesondere TTIP): Diese beiden Entwicklungen der jüngsten Jahre bereiten uns große Sorgen: Wir können in diesen Entwicklungen keinesfalls den Ausdruck einer sozialen, sondern allenfalls einer rein kapitalistischen Marktwirtschaft erkennen. Am Hochfrequenzhandel sind vor allem Banken und Börsen beteiligt; die Aufträge werden superschnell, in Millisekunden, abgewickelt. Nutznießer sind Banken und Großinvestoren (wie Hedgefonds), Börsen und Händler. Das Nachsehen haben die kleinen Investoren. Die Nutznießer bedienen sich einer superschnellen Technik bei den Leitungen, Computern, Programmen und Standorten, diese möglichst direkt neben den Rechenzentren der Börsen und Banken. Jede eingesparte Mikrosekunde ist wichtig. Gewinner sind die schnellsten Handel Treibenden und die Verkäufer/Vermieter optimaler Technik und Standorte.

Unsere Bedenken kommen aus zwei Richtungen: Die Wertpapiere, Kapital und Eigentum der Auftraggeber, dienen als Spielgeld und schließlich der Bereicherung für alle an der Auftragsabwicklung Beteiligten. Dieser Hochfrequenzhandel dient weder der Realwirtschaft noch entspricht er dem GG Art. 14: ”Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen.” Schließlich birgt der Hochfrequenzhandel ungeahnte Gefahren für die Wirtschaft: Bei der Abwicklung der Aufträge (unter Konkurrenzdruck) begegnen sich hochkomplexe Systeme im Mikrosekunden-Bereich. Es kam wiederholt zu Abstürzen, die die Systeme für Stunden lahmlegten. Die Ursache dürfte das einmalige Zusammentreffen unglücklicher Umstände sein, die kaum zu benennen sind, da sich der Fehler praktisch nicht wiederholen lässt.

Wir wünschen, dass die beiden Kirchen öffentlich darauf dringen, Käufer von Wertpapieren aus ethischen Gründen rechtlich zu verpflichten, diese für mindestens 24 Stunden zu halten. (Ernsthafte Investoren würde das kaum stören.)

Außerdem muss das endgültige Dokument den Sinn und Zweck des Eigentums beschreiben!

Die Verhandlungen zu verschiedenen Freihandelsabkommen, v.a. dem zwischen USA und EU bzw. Kanada und EU sind gekennzeichnet durch Intransparenz, hoher Einwirkung durch Lobbyisten und dem Schwerpunkt Investitionsschutz. Befürworter dieses Abkommens stellen gerne heraus, dass die Bürger die Gewinner dieses Abkommens wären.

Seltsam ist, dass Parlament und Öffentlichkeit jetzt und auch später bei den geheimen Schiedsgerichtsverfahren nicht informiert werden. Steuerzahlende dürfen ‘lediglich’ die Folgen tragen. Unserer Meinung nach sollten Verhandlungen und die Anwendung eines Vertrages für die Öffentlichkeit transparent sein und vollständig der parlamentarischen Kontrolle unterliegen. Dazu gehört auch: Eingaben der Lobby müssen öffentlich sein. Ein Zitat zur Rechtsordnung: ”Das ist (...) ein Eingriff in die Rechtsstaatlichkeit. Neben dem staatlichen Justizsystem wird ein privates Parallelrecht für Konzerne aufgebaut. Die normalen staatlichen Gerichte sind künftig nur noch für normale Menschen und Firmen zuständig” (SZ vom 10. Mai 2014, S. 23, Heribert Prantl: “Ein heimlicher Staatsstreich”).

Wir geben zu bedenken: Mancher Bürger hat über Jahrzehnte in seine Arbeitslosen- und Rentenversicherung Beiträge einbezahlt und glaubte sich abgesichert. Dann wurden ihm unvorhersehbare Gesetzesänderungen zugemutet. Er sah sich plötzlich im Hartz IV-Elend und das Rentenniveau wurde abgesenkt. Wir halten es für unmenschlich, dass Investitionen großer Investoren auf Kosten eben dieser Menschen besser behandelt werden sollen als diese selbst. - Wer das Rechts-Risiko einer Investition in unserem Rechtsstaat scheut, sollte Geschäfte in unserem Land besser lassen. Natürlich steht ansonsten jedem Investor der normale Rechtweg vor ordentlichen Gerichten bis zum Bundesverfassungsgericht - wie jedem Bürger - offen.

Wir fordern unsere Kirchen auf, sich dafür einzusetzen, dass der Abschnitt "Investitionsschutz" im geplanten Freihandelsabkommen vollkommen gestrichen wird, weil er unsere Rechtsordnung (zer-)stört und un-menschlich ist.

2. Zu Einzelfragen

These 4 (Staatsfinanzen) bietet eine umfassende und treffende Beschreibung der Situation und ihrer Ursachen. - Die Möglichkeit von Steuererhöhungen jedoch wird nur vorsichtig im folgenden Nebensatz angedeutet: “es muss auch die Einnahmenseite einbezogen werden.” (Seite 29) Wir wünschen uns keine diplomatische Andeutung, sondern klare Wortwahl ("Steuer-Erhöhungen") und eindeutige Positionierung (Erbschaftssteuer, Finanztransaktionssteuer).

These 6 (Demographischer Wandel) verbleibt bei den bekannten, finanzwirtschaftlich geprägten Überlegungen und berücksichtigt den Produktivitätszuwachs nicht. Von einem kirchlichen Schreiben erwarten wir hier an erster Stelle ein ehrliches Lob auf Lebensumstände, von denen alle Generationen vor uns kaum zu träumen wagten: In Würde und Gesundheit lange leben zu können! Der demografische Wandel ist zuerst einmal gesellschaftliches Glück, nicht politischer Kampfbegriff für Privatisierungs-Tendenzen. Die Verlagerung von umlage- auf kapitalfinanzierte Altersvorsorge, als Antwort auf den demografischen Wandel, halten wir aus drei Gründen für äußerst fragwürdig: Für die, die es sich leisten können, ergibt sich annähernd die gleiche finanzielle Belastung. Wer heute arm ist (Kinder, Kranke, Arbeit Suchende), wird es bleiben. Die Altersvorsorge wird weit volatiler. Kirchen haben aus christlichem Glauben heraus eine "Option für Solidarität".

These 9 (Förderung der Bildung) ist uns sehr wichtig - so lange nicht nur selbständige, gesundheitsbewusste Bürger der deutschen Leistungs-, Wirtschafts- und Wissensgesellschaft im Blick sind. Was ist mit allen Anderen? - In einem kirchlichen Papier muss es um den >ganzen< Menschen gehen, also auch um Entwicklung persönlicher Interessen, Muße und Glück, Sozialkompetenz, Literatur und Geschichtsbewusstsein, Lebenssinn und GOTT.

3. Der Gesamteindruck

Ein kirchliches Wort zur Wirtschafts- und Sozialordnung sollte zu drängenden gesellschaftlichen Themen klare Forderungen bzw. Erwartungen sowohl an Regierende und Führungskräfte der Wirtschaft auf der einen Seite als auch an die Bürger auf der anderen Seite enthalten. Diese Forderungen und Erwartungen müssen so dargestellt werden, dass der Leser sie nicht irgendwo im Text suchen muss, sondern auf Anhieb findet.

Wir, die Gläubigen unserer Kirchen, wollen unseren Kirchenleitungen Mut machen zu klaren und begründeten "Zeit-Ansagen", verbunden mit der Aufforderung zur Tat. Getreu dem bewährten kirchlichen Dreisatz "Sehen - urteilen - handeln!"

Schließlich wollen wir nach etwa fünf Jahren Politik und Gesellschaft beurteilen können: "Diese Forderungen wurden erfüllt; bei jenen Forderungen hat sich etwas bewegt, aber es bleibt noch zu tun; bei anderen Forderungen tat sich nichts."

Eine letzte Anregung: Es fehlt ein Sachregister. Dieses würde die Auseinandersetzung mit dem Text erleichtern. So verlieren sich zahlreiche gute Aussagen in der Systematik der Gliederung. Und der Leser muss sich selbst auch die Beschreibungen von Gemein- und Einzelwohl zusammensuchen.

Unterzeichnet von den heute im Treffpunkt "Wirtschafts-Ethik" anwesenden Mitgliedern:

Walter Wedl, Betriebsseelsorger
Monica Odutayo
Dr. Werner Thomas
Walter Bloching
Harald Sterzinger
Gertraude Gampper
Jochen Swoboda
Hans Ambros

 Böblingen, 2. Juni 2014