Vom Reichtum kein Wort

Die Ökumenische Sozialinitiative der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland hat eine breite Diskussion angestoßen. Die zentralen Etappen des Diskussionsprozesses, vom Kongress "Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft" bis zu den Stellungnahmen, Gastbeiträgen und Kommentaren hier auf dieser Webseite, sind im Dokumentationsband "Im Dienst an einer gerechten Gesellschaft" zusammengefasst, den Sie hier als PDF herunterladen können

KDA-Bundesausschuss Erwerbslosigkeit, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik (ESA)

Der Bundesausschuss ESA ist ein Fachgremium des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA), dem Mitarbeitende verschiedener evangelischer Landeskirchen angehören.

In den 17 Jahren seit der Veröffentlichung des Kirchenwortes „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ hat Deutschland einschneidende Veränderungen erlebt. In diese Zeit fielen u.a. das größte Reformpaket (Agenda 2010) und die tiefste Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik. Dass sich die Kirchen mit ihrer Sozialinitiative „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ nun erneut zu Wort melden, ist lohnend und notwendig. Das Ringen um einen ökumenischen Konsens in den sozialen Fragen unserer Zeit hat einen hohen Wert.

Dabei stand nicht zu erwarten, dass ein Text, der notwendigerweise auf Kompromisse angelegt ist, in allen Punkten zu kraftvollen und konkreten Aussagen kommt. Dennoch fällt auf, dass die Sozialinitiative ausgerechnet zu ihrem Kernanliegen, der Armut, relativ wenig Prägnantes sagt. Insbesondere fehlt dem Text die Wahrnehmung, dass die Armut im Jahr 2014 mit ihrer neuen Ausdehnung und Verhärtung eine andere ist als noch in den 90er Jahren. Das Papier, dem doch die „biblische Option für die Armen“ als Leitorientierung vorangestellt ist, findet wenig Anschluss an die Armutsdebatten, die in Gesellschaft und Kirchen geführt werden.

Nicht nur das Ausmaß, auch die Qualität der Armut hat sich verändert

Eine beunruhigende Entwicklung der letzten Jahre war die Gleichzeitigkeit des Booms am Arbeitsmarkt und der Verschärfung der Armut. Wurde das Gemeinsame Wort von 1997 noch stark vom Eindruck der verfestigten Massenarbeitslosigkeit geprägt, erlebten wir nun erstmals seit der Nachkriegszeit einen starken und bleibenden Rückgang der Arbeitslosen von fünf auf drei Millionen. Noch nie gab es – ungeachtet ihrer jeweiligen Qualität – so viele Jobs in Deutschland wie heute. Anders als die Sozialinitiative schreibt, steigt auch das Arbeitsvolumen. Nur: Die Armutsquote hat sich davon entkoppelt. Sie stieg in den vergangenen Jahren nach Daten des Sozioökonomischen Panels auf heute etwa 14 Prozent - drei Prozent mehr als Ende der 90er Jahre. Das „German Jobwunder“ blieb so gesehen ohne soziale Wirkung. Die langjährige Erwartung, dass sich Armut mit Arbeit beseitigen lässt, wurde enttäuscht.

Eine weitere Beobachtung: Nicht nur das Ausmaß, auch die Qualität der Armut hat sich verändert. Es geht nicht nur um „relative Armut“, also um einen statistischen Abstand zum Wohlstandsniveau der Gesellschaft. Es geht immer stärker auch um existenzielle Armut. Davon zeugen die mittlerweile 1,5 Millionen Stammkunden der Tafeln, die mit den Lebensmittelresten der Gesellschaft ihren Hunger stillen. Wir sehen eine expandierende Armutsökonomie aus Sozialkaufhäusern, Kleiderkammern, Suppenküchen und anderen Einrichtungen, auf die ein wachsender Kreis von Arbeitslosen, Erwerbstätigen, Alleinerziehenden, Kindern und Rentnern dauerhaft angewiesen ist. Aus den untersten Einkommensschichten, so zeigen Studien, gelingen immer seltener Aufstiege in die gesicherten Einkommen. Ein abgekoppeltes Parallelmilieu verfestigt sich am unteren Rand der Gesellschaft, das bei weitem nicht nur von Langzeitarbeitslosigkeit geprägt ist.

Reichtum auch mit erwähnen

Dieser gravierende Strukturwandel der Armut ist nicht oder nur vage aus der Sozialinitiative herauszulesen. Zentrale politische Forderungen, für die die Kirchen und ihre Sozialverbände an anderer Stelle streiten, wie die Neuberechnung des Existenzminimums, greift die Initiative nicht auf. Politisch schon beschlossene Maßnahmen, wie den Mindestlohn, unterstützt sie zaghaft. Eine deutlichere Stoßrichtung wird dort spürbar, wo der Text den Begriff der „Aktivierung“ unterstreicht, der vor zehn Jahren die großen Sozialreformen prägte. Doch wird das Programm der Aktivierung der Lage der Armen gerecht? An vielen, die längst verzweifelt aktiv zwischen prekärer Beschäftigung, Fördermaßnahmen und Phasen der Arbeitssuche hin- und herwechseln, ohne der Armut zu entkommen, zielt es vorbei.

Das Armutsthema bleibt nicht zuletzt deshalb blass, weil es kaum in Bezug zur anderen Seite der Einkommensskala gesetzt wird. "Nicht nur Armut, auch Reichtum muss ein Thema der politischen Debatte sein", hieß es 1997 im Gemeinsamen Wort der Kirchen. Im Text der neuen Sozialinitiative kommt das Wort „Reichtum“ nicht vor. Dass sich die Einkommen und Vermögen auseinanderentwickeln, wird erwähnt, ohne dass ein Handlungsfeld erkennbar wird. Dabei liegt gerade hierin eine der wichtigen armutspolitischen Herausforderungen: Welchen Beitrag kann der selbst in Krisenzeiten dynamisch wachsende Reichtum zur Lösung der Armutsproblematik leisten?